Rasen betreten für Frauen verboten
Eine Frau namens Mary sitzt an einem sonnigen Oktobertag am Ufer eines Flusses und hängt ihren Gedanken nach. Das Gelände gehört zu einem Männercollege namens Oxbridge. Als ein zunächst kleiner Gedanke immer größer wird, gerät sie in Erregung und springt auf. Sie läuft über eine Rasenfläche, ohne zu bemerken, was sie tut – und wird unversehens von einem entrüsteten Hauswart des Rasens verwiesen. Frauen dürfen ihn nicht betreten, dieses Privileg ist den männlichen Studenten vorbehalten. Mary soll auf dem Kies gehen, was ungleich beschwerlicher ist. Zu allem Unglück hat sie durch das Auftreten des Hauswarts auch noch ihren Gedanken verloren. Doch schon bald kommen ihr neue Ideen und sie möchte etwas in einer alten Schrift nachlesen, die in der Bibliothek des Colleges aufbewahrt wird. Als sie geistesabwesend die Tür zur Bibliothek öffnet, wird ihr sogleich mitgeteilt, dass Frauen keinen Zutritt haben. Um die Zeit bis zum Mittagessen zu überbrücken, macht sie einen Spaziergang zur Kirche auf dem Collegegelände und überlegt dabei, dass jahrhundertelang viel Geld an die Kirche geflossen ist: zunächst von Adligen, später von Bürgerlichen und Kaufleuten. Dieselben Leute spendeten auch an Bildungseinrichtungen, in denen sie selbst erzogen worden waren. Männer gaben also Geld für die Erziehung von Männern – während Frauen, die zu Hause unbezahlte Arbeit leisteten und ein Kind nach dem anderen gebaren, nichts für die Erziehung der Mädchen tun konnten.
Die materielle Ausstattung der Bildungseinrichtungen
Schließlich schlägt die Glocke zum Lunch. Mary ist sehr angetan von dem hervorragenden und reichhaltigen Essen. Neben köstlichen Rebhühnern in diversen Soßen mit dazu passenden Salaten werden dünne Kartoffeln und saftige, kleine Kohlknospen serviert. Dazu trinkt man Wein, der mehrmals nachgefüllt wird. Zum Nachtisch gibt es einen Pudding, der so gut ist, dass er das schnöde Wort Pudding kaum verdient. Nach diesem Mahl fühlt Mary sich zufrieden, eins mit sich und der Welt, und raucht zum Abschluss eine Zigarette. Das Abendessen nimmt sie dann in einem Frauencollege ein. Doch hier ist alles anders: Das Essen wird nicht in vornehmer Abgeschiedenheit, sondern in einem großen Speisesaal serviert. Die Suppe ist so dünn, dass man das Muster des Porzellans hätte erkennen können, wäre eines vorhanden gewesen. Als Hauptgang werden unansehnliche Rindfleischstücke mit matschigem Rosenkohl und Kartoffeln serviert. Zum Nachtisch gibt es ärmliche Backpflaumen mit Vanillesoße. Dazu keinen Wein, sondern nur Wasser. Zwar wird Mary auch diesmal satt, aber sie spürt nicht die gleiche Zufriedenheit und schöpferische Kraft wie nach dem reichhaltigen Mittagessen. Sie fragt sich, warum das College für Frauen so schlecht ausgestattet ist und das für Männer ungleich besser, und kommt zu dem Schluss, dass für Bildungseinrichtungen für Frauen so wenig Geld gespendet wird, weil kaum jemand ernsthaftes Interesse an einer guten Bildung für Frauen hat. Die Frauen selbst waren in der Vergangenheit überwiegend mittellos. Sie führten den Haushalt und gebaren jedes Jahr ein Kind, sodass sie weder Zeit noch Geld für die Unterstützung eines Frauencolleges übrig hatten – zumal der Lohn, den sie durch „Nadelarbeiten“ (Nähen, Stricken, Sticken usw.) verdienten, per Gesetz dem Ehemann gehörte.
Die Macht und ihr Spiegel
Mary will nun genau wissen, warum seit langer Zeit das eine Geschlecht so privilegiert und reich, das andere aber unterdrückt und arm ist. Sie begibt sich in die Bibliothek des Britischen Museums und studiert Bücher, die mehrheitlich von Männern geschrieben wurden. Zu Marys Überraschung befassen sich zahlreiche Werke mit dem weiblichen Geschlecht. Die Autoren sind nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Romanciers. Männer scheinen Frauen interessanter zu finden als umgekehrt. Frauen sind ein Forschungsgegenstand – etwa wie exotische Tiere. Dabei scheint es Mary, als seien viele Autoren zornig. Doch woher könnte dieser Zorn rühren? In den Büchern findet sie darauf keine Antwort, wohl aber in einer Abendzeitung. Aus jedem Artikel wird deutlich, dass Männer die Geschicke der Welt lenken und Frauen lediglich Opfer sind. Vielleicht sind Männer gar nicht wirklich zornig, sondern sie demonstrieren nur Stärke, um ihre Macht zu erhalten. Die Frau ist der Spiegel, in dem der Mann zu doppelter Größe wächst. Männer brauchen Frauen, um sich Bestätigung zu holen. Sie leben von dem Gefühl, der Frau, also der Hälfte der Menschheit, überlegen zu sein. Dennoch sind diese Patriarchen bedauernswert: Sie müssen zwanghaft ihrem Drang nach Besitz folgen und daher abscheuliche Dinge wie Grenzen, Schlachtschiffe und Giftgas erfinden.
Shakespeares Schwester
Auf der Suche nach von Frauen verfasster Literatur stößt Mary auf leere Regale. Sie recherchiert die Lebensumstände von Frauen und findet heraus, dass Mädchen meist im Alter von 15 Jahren an einen von den Eltern gewählten Ehemann verheiratet wurden. Sie wurden zur Mithilfe im Haushalt und zu Nadelarbeiten angehalten, alles andere galt als unnötig, wenn nicht gar ungehörig. Mary stellt sich vor, wie das Leben einer fiktiven Schwester Shakespeares ausgesehen hätte. Diese Schwester, nennen wir sie Judith, wäre, obwohl ebenso begabt wie ihr Bruder, nicht zur Schule geschickt worden und hätte allenfalls seine Bücher auszugsweise studieren können. Wäre sie selbst heimlich Verfasserin von Gedichten gewesen, hätte sie diese aus Angst vor den Eltern verbrannt. Kurz vor der Zwangsheirat mit einem ungeliebten Bräutigam wäre sie von zu Hause geflohen und hätte versucht, in einem Theater als Schauspielerin unterzukommen. Doch auch dort hätte sie nur Spott geerntet. Sie wäre vom Theaterdirektor geschwängert worden, sodass sie aus Verzweiflung ihrem Leben ein Ende gemacht hätte. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein schrieben Frauen unter (meist männlichen) Pseudonymen. Die Umstände waren für sie schwierig: Niemals hatten sie ein eigenes ruhiges Zimmer, rund um die Uhr waren sie für Kinder und Haushalt verantwortlich. Das Geld, das sie durch Handarbeiten verdienten, gehörte erst dem Vater und später dem Ehemann. Sie konnten nicht das Haus verlassen und, wie männliche Dichter, Wanderungen und Reisen unternehmen, um ihren Horizont zu erweitern.
Dichterinnen im 16. Jahrhundert
Im 16. Jahrhundert durften nur adlige Frauen Gedichte verfassen und auf eine höfische Zuhörerschar hoffen. Diese Gedichte waren häufig gefärbt von der unglücklichen Stellung der Frauen und gezeichnet von Hass und Empörung gegen die männliche Herrschaft. So z. B. bei der 1661 geborenen Lady Winchilsea. In ihren Gedichten beklagt sie den mangelnden Zugang zu Bildung für Frauen, die „reich nur an Talent“ seien, und macht die Männer für diese Misere verantwortlich. Ihr Drang zu schreiben, gepaart mit dem Wissen, dass ihr Werk niemals veröffentlicht werden könnte, trieb sie in eine bleierne Melancholie. Nicht viel anders erging es Margaret von Newcastle, die als exzentrische Herzogin bekannt war. Wie Lady Winchilsea war sie kinderlos und nutzte ihre Intelligenz und Schaffenskraft zum Schreiben. Sie neigte zu Wutausbrüchen, und ihre Verse waren häufig von Zorn geprägt. Beide Frauen erhielten keinerlei Bildung. Sie blieben allein mit ihren Gedanken und ihrer Intelligenz und wurden darüber trübsinnig und verwirrt.
Schriftstellerinnen im 18. Jahrhundert
Im 18. Jahrhundert wendete sich das Blatt zugunsten des weiblichen Geschlechts. Nun konnten Frauen tatsächlich mit dem Schreiben Geld verdienen. Weibliches Schreiben galt nicht mehr nur als Unsinn. Frauen kamen zum Gedankenaustausch zusammen und verfassten Essays. Witwen konnten sich durch das Schreiben von Romanen oder das Übersetzen von Büchern über Wasser halten. Nun schrieben nicht mehr nur Adlige, sondern auch Frauen aus dem Mittelstand, wie die berühmte Jane Austen. Das Genre der Wahl war der Roman, denn den Frauen, die in der Regel nur im turbulenten Familienwohnzimmer schreiben konnten – keine hatte einen eigenen Raum oder verfügte über Freizeit –, fiel Prosa leichter als Lyrik oder Dramen. Das Studium der Menschen in ihrem Wohnzimmer und das Beobachten deren Handelns waren die Quelle für Jane Austen – die ihre Manuskripte allerdings verschämt versteckte, wenn Dienstboten oder Besucher den Raum betraten. Charlotte Brontë wäre sicher fähig gewesen, große Poesie zu verfassen, wenn die Umstände nicht auch sie zum Schreiben von Romanen veranlasst hätten. In ihren Werken plädiert sie dafür, Frauen mehr sein und mehr lernen zu lassen als Strümpfe stopfen und Suppe kochen. Welche Möglichkeiten hätte Charlotte Brontë gehabt, wenn sie über eigenes Geld verfügt und die Gelegenheit zum Reisen gehabt hätte? Romane von Schriftstellerinnen spiegeln deren tatsächliche Lebensumstände wider – dabei weckten und wecken „männliche“ Themen beim Publikum mehr Interesse als Kleidung und Mode. Doch Schriftstellerinnen wie Jane Austen und Charlotte Brontë, wie George Eliot und Emily Brontë ließen sich davon nicht beeinflussen und verfolgten ihre eigenen Gedanken und Werte. Sie schufen einen eigenen weiblichen Stil.
Frauen in der modernen Literatur
Inzwischen werden beinahe gleich viele Bücher von Frauen verfasst wie von Männern. Zwar überwiegen aus weiblicher Feder immer noch Romane, doch gibt es auch eine Vielzahl wissenschaftlicher Werke, Biografien, Literaturkritiken und Theaterstücke. Um zu ergründen, ob sich der Stil gewandelt hat, nimmt Mary sich den Roman Life’s Adventure (1928) von Mary Carmichael vor – und ist zunächst enttäuscht. Der Stil ist rau und sperrig, einzelne Wörter stören den Fluss der Erzählung. Zudem scheint Carmichael zu viele Fakten auf zu engem Raum unterbringen zu wollen. Doch weil sie Sätze zerbricht und die erwartete Reihenfolge ändert, darf das Buch nicht als schlecht bewertet werden. Es ist nur anders als der von Jane Austen geprägte Stil. Bemerkenswert sind außerdem die Worte: „Chloe mochte Olivia.“ Damit wird die Möglichkeit eines Verhältnisses zwischen den beiden Frauen angedeutet. Das ist nun wirklich etwas Neues, denn bisher wurden Frauen immer nur in ihrer Beziehung zum männlichen Geschlecht dargestellt. Die Frauen in Carmichaels Roman teilen sich ein Labor, sie streben nach Erkenntnissen und geistiger Nahrung. Auch diese komplexe Darstellung von Frauen ist neu: Männliche Schriftsteller haben sie zumeist in ihrem häuslichen Umfeld beschrieben, auf das sich ihre gesamten Interessen zu beziehen schienen. Wie hätte wohl die Literatur ausgesehen, wenn Männer nur in ihrer Beziehung zu Frauen dargestellt worden wären? Es hätte keine Forscher, Helden und Entdecker gegeben.
„Aber, werden Sie sagen, wir haben Sie gebeten, über Frauen und Literatur zu sprechen – was hat das mit einem eigenen Zimmer zu tun? Ich werde versuchen, es zu erklären.“ (S. 7)
Frauen konnten in der Vergangenheit keine Universitätsausbildung absolvieren, geschweige denn einen freien Beruf ausüben. Stattdessen bildeten sie immer den Kontrapunkt zur Berufstätigkeit des Mannes, der neue Kraft schöpfte, wenn er in sein häusliches Leben zurückkehrte. Doch Frauen wollen auch etwas schaffen, und ihre Schaffenskraft unterscheidet sich von derjenigen der Männer. Frauen müssen darum ihren eigenen Stil finden. Es wäre eine Verschwendung von Ressourcen, wollten sie sich dem männlichen Stil zu sehr anpassen. Mary Carmichael ist eine schreibende Frau, aber eine, die sich ihres Frauseins nicht bewusst ist. Sie ist kein Genie, aber hätte sie 100 Jahre Zeit, sich zu entwickeln, 500 £ im Jahr und ein eigenes Zimmer, würde sie sicherlich eine große Dichterin werden.
Die Bedeutung der Androgynität
Wie im Körper, so gibt es auch im Geist Spannungen und Gegensätze. Der Geist kann sich von seiner Umgebung zurückziehen und für sich selbst denken. Oder er kann sich mit anderen Personen austauschen und dabei ständig seinen Fokus ändern. Manche Geisteszustände sind unangenehm, weil man etwas zurückhält. Um als Ganzes fungieren zu können, muss der Geist eine natürliche Verschmelzung sowohl männlicher als auch weiblicher Elemente erfahren. Existieren im Geist zwei Geschlechter, wie es beim Körper zwei Geschlechter gibt? Und hat auch die Seele einen männlichen und einen weiblichen Anteil, ist sie so beschaffen, dass bei den Männern der männliche und bei den Frauen der weibliche Teil die Oberhand hat? Wenn das so ist, hat der Mann einen weiblichen Teil im Gehirn, der Einfluss auf sein Verhalten hat, genau wie die Frau über einen männlichen Teil im Gehirn verfügt. Ein androgyner Geist, wie beispielsweise der von Shakespeare, ist besonders schöpferisch, aber nicht einfach zu erlangen.
„Dass eine berühmte Bibliothek von einer Frau verflucht worden ist, bleibt einer berühmten Bibliothek vollkommen gleichgültig.“ (S. 11)
Unser Zeitalter ist sehr geschlechtsbewusst. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die Männer von Frauenrechtlerinnen angegriffen fühlen und entsprechend hart zurückschlagen. Frauen erscheinen nur als Schatten in ichgeprägter, männlicher Literatur. Das Gefühl der männlichen Erhabenheit, das häufig die Bücher der Schriftsteller durchdringt, verstehen weibliche Leser nicht. Die Frauen vermissen das Suggestive und empfinden deshalb diese Bücher als eintönig und langweilig. Schriftsteller und Schriftstellerinnen sollten sich nicht von ihrem Geschlecht leiten lassen, sondern männliche mit weiblichen Elementen kombinieren. Denn wenn ein Autor voreingenommen ist, hört er auf, schöpferisch zu sein, und es wird ihm nicht gelingen, einen Keim in den Geist seines Lesers oder seiner Leserin zu pflanzen.
Frauenbewegung und Frauenrechte
Ende der 1920er Jahre, als Virginia Woolf ihren Essay veröffentlichte, war es für Frauen immer noch äußerst schwierig, als Schriftstellerin zu arbeiten. Immerhin konnten sie sich inzwischen auf diese Weise betätigen, ohne gleich gesellschaftlich geächtet zu sein. Noch 50 oder gar 100 Jahre zuvor hatte das ganz anders ausgesehen. Eine der ersten feministischen Veröffentlichungen war A Vindication of the Rights of Woman (Ein Plädoyer für die Rechte der Frau, 1792) der Engländerin Mary Wollstonecraft. Sie setzte sich besonders für die Ausbildung von Frauen ein. In England wurde den Frauen erst mit den „Married Women’s Property Acts“ von 1870 und 1882 das Recht gegeben, eigenen Besitz zu haben. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden der verknöcherten konservativen Gesellschaftsordnung in England empfindliche Schläge versetzt. Der außenpolitische Geltungsbereich des britischen Empires begann sich zu verändern: Es wich allmählich dem losen Staatenbund des späteren Commonwealth. Innenpolitisch machte die Emanzipation große Fortschritte: Frauen, die während des Ersten Weltkrieges die Arbeit der Männer übernommen und in den Rüstungsfabriken Schwerstarbeit geleistet hatten, gaben sich nach dem Friedensschluss nicht mehr mit ihrer alten Rolle zufrieden. Sie forderten lautstark gleiche Rechte ein. 1919 wurde den Frauen in Großbritannien ein eingeschränktes, 1928 dann das volle Wahlrecht zuerkannt. Bereits vor dem Krieg hatten Frauen in der Suffragettenbewegung für ihr Wahlrecht gekämpft. Mit dem Erreichen ihrer Ziele verebbte diese erste Welle der Frauenbewegung.
Entstehung
Zum Entstehungsprozess von Ein eigenes Zimmer schrieb Virginia Woolf in ihr Tagebuch: „Es formte sich von selbst und drängte sich mir auf ... in einem solchen Tempo, dass es mir vorkam, als stürze eine Wasserflasche um, sobald ich Papier und Stift zur Hand nahm.“ Ausgangspunkt für den Essay waren zwei Vorträge, die Woolf im Oktober 1928 in zwei Colleges der Universität Cambridge hielt. Diese beiden Lehranstalten waren die ersten und zu Woolfs Zeit auch einzigen in England, die Frauen zum Studium zuließen. Zu den Vorträgen zum Thema „Frauen und Literatur“ reiste die Autorin einmal mit ihrem Mann Leonard Woolf, das andere Mal mit ihrer Freundin und Geliebten Vita Sackville-West an. Damit demonstrierte sie öffentlich, was sie sich unter (sexueller) Selbstbestimmung der Frau vorstellte. Woolf hatte kurz zuvor ihren Roman Orlando veröffentlicht. Darin verwandelt sich die zunächst männliche Hauptfigur in eine Frau und kann auf diese Weise eine neue, androgyne Sichtweise erlangen. Woolf hatte die Arbeit an Orlando zeitweise unterbrochen, um ihre Vorträge vorzubereiten, sodass sich die beiden Werke in der Entstehungsphase gegenseitig beeinflussten. Nachdem die Vorträge gehalten waren, kombinierte Woolf sie zu einem sechsteiligen Essay, den sie im Oktober 1929 im Eigenverlag The Hogarth Press veröffentlichte.
In Ein eigenes Zimmer verarbeitete Virginia Woolf auch ihre persönlichen Erfahrungen: Wie den meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen blieb ihr in ihrer Jugend der Zugang zu Bildung und damit die Möglichkeit, selbstständig zu arbeiten, verwehrt, anders als den männlichen Familienmitgliedern. Während Woolf an dem Text arbeitete, erregte ein Gerichtsprozess in London Aufsehen, der das Verbot eines von einer Frau verfassten Romans zum Ziel hatte. Es handelte sich um den „lesbischen Roman“ The Well of Loneliness von Marguerite Radclyffe Hall. Obwohl sie den Roman furchtbar fand, setzte sich Virginia Woolf für die künstlerische Freiheit der Verfasserin ein.
Wirkungsgeschichte Kurz vor der Veröffentlichung des Essays quälte sich die Autorin noch mit Selbstzweifeln und erwartete, dass man sie „als Feministin angreifen & als Sapphistin verdächtigen“ würde. Doch ganz so schlimm kam es nicht. Die erste Auflage von rund 3000 Exemplaren verkaufte sich sehr schnell. Bis Dezember des gleichen Jahres mussten drei Folgeauflagen mit insgesamt rund 12 000 Exemplaren gedruckt werden. Die Presse verhielt sich überwiegend freundlich. Wenn nicht, konterte Woolf mit Leserbriefen, was eigentlich sonst nicht ihre Art war. Viele ihrer Stammleserinnen reagierten mit Beifall und wohlwollenden Briefen. Über die Jahre entwickelte sich der Essay zu Woolfs bekanntester nichtfiktionaler Schrift. Er stellt gewissermaßen den Startschuss für eine feministische Literaturwissenschaft dar und avancierte insbesondere in den Feminismusdiskursen der 70er Jahre zu einem der meistzitierten Texte der Frauenforschung. Das liegt vor allem daran, dass Woolf sich explizit mit Frauenthemen beschäftigte und eine frauenspezifische Sichtweise der Welt propagierte, gleichzeitig aber auch die Arbeitsbedingungen schreibender Frauen in den Fokus nahm. Woolfs Essay als Gründungsdokument der feministischen Literaturwissenschaft hatte viele Nachfolger. Dazu gehört beispielsweise Simone de Beauvoirs Buch Le Deuxième Sexe (Das andere Geschlecht, 1949). Darin analysierte die Französin, ähnlich wie Woolf, die Frauengestalten der Literatur und kommt zu dem Ergebnis, dass Frauen meist als etwas Fremdes, Feindliches dargestellt würden und „Frausein“ vor allem eine soziale Konstruktion sei.